Mit seiner Ankündigung, ein von Terroristen gekapertes Flugzeug notfalls abschießen zu lassen, hat sich Verteidigungsminister Jung außerhalb des Rechts gestellt. Ein Kommentar
Darf ein Minister sich über Gesetze hinwegsetzen? Um es vorwegzunehmen: Ja, er darf, er muss es vielleicht in manchen Fällen sogar. Zum Beispiel im Fall der Notwehr, wenn Terroristen allein mit einem Flugzeug in ein Hochhaus oder ein Atomkraftwerk zu fliegen drohen. Dann darf er die Maschine abschießen lassen, genauso wie ein Polizist einen Geiselnehmer erschießen darf, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, ihn auszuschalten und die Geisel zu retten.
Aber darf ein verantwortlicher Minister ein mit unschuldigen Passagieren besetztes Flugzeug abschießen lassen, das Terroristen womöglich als Waffe wie beim 11. September benutzen wollen? Darf er darüber auch nur laut nachdenken? Nein, das darf er eindeutig nicht. Wenn er das aber tut, dann handelt er nicht nur verantwortungslos, sondern rechts- und verfassungswidrig, also wider seinen Amtseid.
Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum sogenannten Luftsicherheitsgesetz im vergangenen Jahr unmissverständlich klargestellt: Es ist dem Gesetzgeber nicht erlaubt, das Leben der Passagiere und Besatzungsmitglieder in einer entführten Maschine gegen das Leben einer möglicherweise größeren Zahl von Menschen am Boden abzuwägen, die durch den Abschuss unter Umständen gerettet würden. Die Menschen in dem Flugzeug würden dann nämlich zu bloßen Objekten degradiert, zu Mitteln, über die man frei verfügen kann. Das aber verstieße gegen die Basis des Grundgesetzes: den Schutz der Menschenwürde in Artikel eins.
Und deshalb ließe sich auch durch eine Grundgesetzänderung ein Flugzeugabschuss nicht legitimieren. Denn der Kernbestand der Verfassung, die Menschen- und Grundrechte, zu denen natürlich auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Artikel zwei gehört, darf vom Parlament nicht angetastet werden. Eine solche Verfassungsänderung wäre selbst verfassungswidrig und würde von Karlsruhe mit absoluter Sicherheit sofort kassiert. (Von den praktischen Problemen ganz abgesehen, in kurzer Zeit herausfinden zu wollen, ob eine Maschine in der Hand von zum Tode entschlossenen Terroristen ist oder sich schlicht verflogen hat, und sie dann womöglich über dicht besiedeltem Gebiet zum Absturz zu bringen.)
Wusste dies alles Verteidigungsminister Franz Josef Jung nicht, als er am Wochenende ohne Not wieder einmal an das Thema rührte? Das ist kaum anzunehmen, schließlich ist er promovierter Jurist. Viel eher ist zu vermuten, dass er, gemeinsam mit Innenminister Wolfgang Schäuble, der ebenfalls am Wochenende von Anschlägen mit "nuklearem Material" fabulierte, den Koalitionspartner SPD in Sachen Sicherheitsgesetze und Terrorbekämpfung wieder einmal unter Druck setzen wollte.
Die Union soll als diejenige Partei dargestellt werden, die sich um die Sicherheit der Bürger kümmert, zum Beispiel in Form eines neuen "Abschussgesetzes", und die SPD als diejenige, die sich ständig widersetzt, zum Beispiel auch im Fall der Onlinedurchsuchungen.
Nebenbei geht es Jung wie Schäuble darum, einen Einsatz der Bundeswehr im Inland zu ermöglichen, eines ihrer Lieblingsthemen. Denn damit die Bundesluftwaffe überhaupt Flugzeuge im deutschen Luftraum theoretisch abschießen könnte - auch dies hat das Verfassungsgericht dargelegt -, müsste zunächst das Grundgesetz in diesem Sinne geändert werden.
Aber selber wenn man solche durchsichtigen parteitaktischen Motive zugrunde legt, sind die Äußerungen von Jung empörend. Denn er setzt sich nicht nur über das Grundgesetz hinweg, sondern er kündigte an, dass er ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts schlicht nicht befolgen will. Wer sich aber selbst so außerhalb des Rechts stellt, ist als Minister kaum mehr tragbar, wenn er sich nicht umgehend von seinen Äußerungen distanziert.
Dass die Union sich nur halbherzig hinter ihn stellt, zeigt, dass die Partei- und Fraktionsführung das erkannt hat. Ohnehin zählte Jung von Anfang an zu den schwächsten Ministern der Bundesregierung. Schon mehrfach fiel er mit unbedachten Äußerungen auf. Sein Amt verdankt er allein dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, dem er in der hessischen CDU-Spendenaffäre durch seinen Rücktritt aus der Patsche geholfen hatte und der seinen engen Vertrauten als Belohnung dafür 2005 als Aufpasser ins Bundeskabinett schickte. Kanzlerin Merkel, Koch nicht unbedingt in tiefer Freundschaft verbunden, wird deshalb keinen sonderlichen Grund sehen, ihre schützende Hand über Jung zu halten.
Der Verteidigungsminister sollte also seine Worte überdenken und zurücknehmen. Was nicht heißen muss, dass er (oder ein anderer in diesem Amt) in einem hypothetischen Terrorfall dennoch vor die Wahl gestellt sein kann, ein Flugzeug abschießen zu lassen oder womöglich den Tod von noch mehr Menschen in Kauf zu nehmen.
Doch diese Entscheidung kann ihm niemand abnehmen. Die müsste er allein vor seinem Gewissen verantworten und womöglich hinterher vor Gericht. Doch laut reden sollte man darüber vorher nicht. Und schon gar nicht versuchen, es in irgendeine Gesetzesform zu gießen. Denn hier hört das Recht auf - und beginnt die politische Verantwortung.
http://www.zeit.de/online/2007/38/jung- ... r?page=all